Das Heimat-Experiment – wie aus einem einfachen Spaziergang ein Mikro-Urlaub werden kann

Veröffentlicht am: 03. Mai 2025

Heimat-Experiment

Jedes Mal, wenn ich für mehrere Tage an einem fremden Ort bin, kann ich es kaum erwarten, die unbekannte Umgebung zu erforschen – ausnahmslos zu Fuß. Bei Wind und Regenschirm-Wetter.

Gleich am ersten Tag, kurz nachdem ich meine Gepäckstücke aus dem Weg geräumt habe – auspacken verschiebe ich auf später - zieht es mich nach draußen. Der fremde Schlüssel in meiner Hand verheißt ein Stückchen Sicherheit in dieser fremden Umgebung.

Ich trete vor die Tür. Schon meine ersten Schritte fühlen sich leichter an als zuhause. Ich spanne meine Schultern nach hinten. Ich hebe den Kopf. Meine Sinne sind weit offen. Ich schaue in den Himmel, achte auf jedes kleine Detail und sauge die unbekannte Luft in mich hinein. Als wäre es das erste Mal, dass ich zu Atem komme, so wie nach einer Krankheit, die einen für längere Zeit auf die Couch verbannt und den Tagesrhythmus auf den Kopf gestellt hat. Oder wie damals, nachdem ich Schrittchen für Schrittchen aus meinem Psychokrisen-Loch gekrabbelt war und meinen ersten Spaziergang in vollem Bewusstsein angetreten habe.

Wieso wirkt das Grün der Bäume im Urlaub meistens grüner als zu Hause, das Blau eines Baches blauer und das Wasser frischer und klarer? Sogar mehr Tiere scheinen unterwegs zu sein. Das Vogelgezwitscher lauter. Oder unterliege ich dabei jedes Mal einer Täuschung meiner eigenen Sinne?

Oft scheitern gesundheitsfördernde Aktivitäten an inneren Hürden

Irgendwann stellte ich mir die Frage, ob ich dieses wunderbare Gefühl nicht auch zu Hause im Alltag kreieren könnte? Ich bin skeptisch. Vermutlich scheitert das an der vermeintlich „fehlenden Zeit“, den Verpflichtungen und den Kopf voller Kleinigkeiten und den hausgemachten Problemgedankenschleifen.

Heute will ich es wissen und wage das Experiment. Ich nenne es insgeheim das „Heimat-Experiment“:

Es ist ein schnöder Samstagnachmittag. Einer ohne Termin, Einladung oder sonstige Ablenkungen - durch mich selbst oder meine Mitbewohner. Da alle ihren eigenen Beschäftigungen nachgehen, ist das DIE Gelegenheit - MEINE CHANCE, mich alleine aus dem Haus zu stehlen. Für heute habe ich mir eine besondere Herausforderung ausgedacht. Meine Challenge besteht darin, ausschließlich nur Wege zu wählen, die ich noch nie gegangen bin.

Natürlich beginnt das Experiment erst, nachdem mein Wohnort, in dem ich die allermeisten Straßen und Gassen bereits gegangen bin, hinter mir und der mir bekannte Wald vor mir liegt. Bewusst ignoriere ich jetzt die Abzweigungen und Wege, die ich unzählige Male mit meinem Mann, später mit den Kinderwägen und noch später mit zwei wilden Kleinkindern mit fuchtelnden Stöcken gegangen bin oder mit den Fahrrädern befahren habe.

Ungewohnte Wege zu gehen fördert flexibleres Denken und Klarheit

Ich wähle eine Weggabelung, die mir erst jetzt richtig auffällt. War die schon immer an dieser Stelle?

Warum überrascht es mich nicht, dass diese Route tatsächlich irgendwohin zu führen scheint? Ich lasse moosbewachsene Bunkerreste und am Rand liegende mächtige Baumstämme neben mir liegen. Obwohl sanfte Fahrrinnen zu sehen sind, begegne ich keinem einzigen Menschen. Als es plötzlich im Dickicht knackt, spanne ich meine Muskeln an und frage mich, ob dieser Versuch wirklich eine gute Idee war. Ich wische die Vorstellung, ein Wildschwein könnte mich überraschen, tapfer zur Seite.

An einer Stelle wird der Weg zu einem schmaleren Pfad. Vorsorglich stelle ich den Standort-Button auf meinem Handy an, um nicht in meiner eigenen Heimat aus Versehen in die Irre zu laufen. Obwohl mir mein Verstand sagt, dass ich höchstens einen Kilometer von meinem Haus entfernt sein kann, sind alle meine Sinne auf Abenteuer und eine kindliche Neugier ausgerichtet. Es riecht nach Bärlauch und feuchter Erde. Ich stelle fest. Ja, auch hier und heute wirken die Blätter der Bäume grüner als sonst, zwitschern die Vögel lauter als sonst.

Der Pfad führt nun entlang eines Bachs – der in der Folge nur wenige Meter von unserem Haus entfernt vorbeifließt. Es ist derselbe Bach, den ich tagtäglich mit dem Auto oder Fahrrad an den verschiedensten Stellen überquere. Doch jetzt und hier spiegelt sich der weißblaue Himmel darin und auch die Bäume mit den für hier typischen Mistel-Kugeln im Geäst. Ich entdecke Blumen mitten auf einer Lichtung, die mir von der Straße aus bisher verborgen geblieben ist. Nur in der Ferne höre ich vereinzelte Autos, begegne während der ganzen Zeit noch immer keinem einzigen Menschen. Nur tanzenden Fliegen, Vögeln, Schnecken und Wasserläufern. Es ist magisch.

Es lohnt sich immer, gesunde Routinen in den Alltag einzubauen

Ja, das Experiment ist gelungen. Erfrischt gehe ich nach Hause und setze mich motiviert an meinen PC, um meine Erfahrung in diesen Artikel zu packen. Die Gedanken scheinen aus den gelüfteten Hirnzellen ohne Umweg in meine Finger zu fließen. Experiment geglückt. Es fühlt sich an, als wäre ich weit fort gewesen – aufgetankt, erfrischt und mit neuen Impulsen. Von jetzt an werde ich diesen Mikro-Urlaub so oft wie möglich in meinen Alltag einbauen. Viele Pfade warten schließlich noch darauf, mit anderen Augen - neu - entdeckt zu werden. Das gilt nicht nur für den Samstagsspaziergang.

Hinweis: Ohne KI und mit eigenem Hirn, Herz und Fingern geschrieben
Bildbeschreibung

Wenn Du die Geschichte hinter meinem Gesicht erfahren möchtest:

"Wer leben will, muss fühlen"